Analyse in den aktuellen WSI Mitteilungen
Rund die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland arbeiten in einem Betrieb mit Betriebsrat. Was ist mit den anderen? Warum es Betriebe ohne betriebliche Mitbestimmung gibt und wie in diesen Unternehmen Management und Beschäftigte miteinander umgehen, haben Soziologen der TU München erforscht. Ihre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Studie identifiziert auf Basis von Fallstudien in 26 Unternehmen vier Typen von Betrieben ohne Betriebsrat. Das reicht von der Discounter-Filiale, in der die Unternehmensleitung die Gründung einer Arbeitnehmervertretung behindert, bis zum erfolgreichen Industriebetrieb, in dem die Beschäftigten eine formale Vertretung kaum vermissen, so lange sie das Gefühl haben, mit "informellen"
Analyse in den aktuellen WSI Mitteilungen
Rund die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland arbeiten in einem Betrieb mit Betriebsrat. Was ist mit den anderen? Warum es Betriebe ohne betriebliche Mitbestimmung gibt und wie in diesen Unternehmen Management und Beschäftigte miteinander umgehen, haben Soziologen der TU München erforscht. Ihre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Studie identifiziert auf Basis von Fallstudien in 26 Unternehmen vier Typen von Betrieben ohne Betriebsrat. Das reicht von der Discounter-Filiale, in der die Unternehmensleitung die Gründung einer Arbeitnehmervertretung behindert, bis zum erfolgreichen Industriebetrieb, in dem die Beschäftigten eine formale Vertretung kaum vermissen, so lange sie das Gefühl haben, mit "informellen"
Regelungen gut zu fahren. Dabei zeigt sich aber auch: Wo es an Betriebsräten fehlt, werden "Konflikte systematisch individualisiert", schreibt Dr. Stefan Lücking, Soziologe an der TU München in einem Beitrag für die aktuelle Ausgabe der WSI Mitteilungen.* Die Beschäftigten bekommen das mit unterschiedlicher Härte zu spüren - je nachdem, welchem Typ ihr Unternehmen zuzuordnen ist.
Typ 1: Prekäre Dienstleistung
Der Mangel an Arbeitnehmervertretung ist nach Analyse der Wissenschaftler besonders misslich für die meist prekär Beschäftigten von Discountern, Wachdiensten, von Betrieben der Gebäudereinigung und im Gastgewerbe. "Ausgerechnet in dem Bereich, in dem eine effektive Interessenvertretung besonders nötig wäre, existieren nur in Ausnahmefällen Betriebsräte", resümiert Lücking. Das sei meist von den Arbeitgebern so gewünscht, bereits die Organisation des Unternehmens solle eine gemeinsame Interessenartikulation der Belegschaft behindern. Selbst wenn der Arbeitgeber ein Großkonzern ist, existiert in den Filialen eine kleinbetriebliche Sozialstruktur, "in der jeder jeden kennt und Konflikte schnell zu persönlichen Auseinandersetzungen führen". Um die Arbeitszeit mit Familienzeiten in Einklang zu bringen, brauchen Teilzeitkräfte und Minijobber ein gutes Verhältnis zum Chef.
Bei solchen Abhängigkeiten lasse man es lieber nicht auf einen Streit über Arbeitnehmerrechte ankommen. Die Beschäftigtenstruktur erschwere zudem die Gruppenbildung: Teilzeitkräfte machen keine gemeinsame Pause.
Unternehmen versuchten mit legalen wie illegalen Mitteln, die Bildung von Betriebsräten zu verhindern. Trotzdem haben die Münchener Wissenschaftler auch erfolgreiche Gründungen beobachtet. In diesen Fällen wechselte die Strategie der Arbeitgeber anschließend: Das neue Ziel lautete, einen Gesamtbetriebsrat zu verhindern.
Typ 2: Patriarchalische Familienunternehmen
Etwas besser sind die Bedingungen nach Beobachtung der Forscher in patriarchalisch geführten Familienunternehmen, wo die Gunst des Chefs wichtiger ist als eine objektive Leistungsbewertung. Die Beschäftigten der untersuchten Unternehmen akzeptierten die Strukturen, solange sie glauben, davon zu profitieren. Manchmal eröffne die persönliche Gunst auch ohne formale Qualifikation Aufstiegschancen, die in anderen Unternehmen nicht möglich wären, analysiert Lücking. Die Unternehmensführung behaupte, alle hätten die gleichen Interessen: den Erhalt des Standortes. Konflikte führten in diesem Klima leicht zu Entlassungen. "Jede Form von Kritik wird von vorneherein stigmatisiert", so die Studie.
Den Tabubruch, einen Betriebsrat zu gründen, begehe man in solchen Unternehmen nur, wenn viel zu gewinnen oder zu verlieren ist. In einer Auto-Werkstatt-Kette war Letzteres der Fall: Es kam zu "einer spürbaren Verschlechterung der Arbeitsbedingungen", nachdem Finanzinvestoren das ehemalige Familienunternehmen übernahmen.
Typ 3: New Economy
Auch in der EDV-Branche sind Betriebe ohne Betriebsrat keine Ausnahme. Oft lehnt das Management betriebliche Interessenvertretungen ab, auch Tarifverträge bilden nicht einmal einen entfernten Bezugspunkt für die Arbeitsverträge. Die Soziologen sprechen in einigen Fällen von einem "neopaternalistischen Orientierungsmuster". Soweit es dem Unternehmen nutze, gewähre das Personalwesen den Beschäftigten weitgehende Autonomie. Die Beschäftigten der untersuchten Unternehmen nehmen ihrerseits bereitwillig Phasen mit exzessiven Arbeitszeiten hin.
Die Bereitschaft zu Gremienarbeit sei dagegen gering. Lücking nennt zwei Gründe: Die Beschäftigten sind stark auf die eigene Arbeit fixiert. Und in der IT-Branche verändert sich das spezifische Wissen stetig, eine Auszeit für Gremienarbeit würden viele als Karriererisiko wahrnehmen. Personaler beriefen bei Konflikten gerne alternative Gremien. Das hat für sie den Vorteil, dass sie selbst darüber entscheiden können, wer mit am Tisch sitzen darf. Die Belegschaften zweier untersuchter Unternehmen gründeten gleichwohl einen Betriebsrat, in beiden Fällen waren betriebliche Umstrukturierungen der Anlass. Dies zeigt den Experten zufolge, dass in wissensbasierten Unternehmen das nötige Selbstbewusstsein da ist - wenn denn mal der Interessenkonflikt von Arbeitgebern und Arbeitnehmern offen zu Tage getreten ist.
Typ 4: Hochspezialisierte Industrie
Ein Sonderfall sind sehr spezialisierte Industrieunternehmen, die eine Nische am Weltmarkt haben. Oft in ländlichen Gebieten angesiedelt, haben sie kaum mehr als 100 Beschäftigte, überwiegend gut qualifizierte männliche Facharbeiter. Das Geschäftsmodell dieser Betriebe besteht darin, hohe Qualität zu entsprechenden Preisen zu liefern, und das möglichst flexibel. Das erkläre den Charakter der Beziehung zwischen Unternehmen und Beschäftigten, so Lücking. Es werde Anerkennung gegen Flexibilität getauscht, Vertrauen gegen Loyalität. Die Arbeitsverträge sind nicht tarifgebunden, sie lehnen sich aber an Tarifverträge an, auch die Beziehungen zwischen Management und Belegschaft orientieren sich an den Umgangsformen in mitbestimmten Unternehmen.
Die beiden Seiten agierten so, als ob es bereits einen Betriebsrat gebe. Die Arbeitgeber sorgen sich, das Gremium würde Abstimmungsprozesse verlängern, darum sprechen sie sich nicht für die Gründung einer Interessenvertretung aus. Aber sie "versuchen nicht, einen Betriebsrat mit allen (auch unerlaubten) Mitteln zu verhindern, sondern bieten den Beschäftigten stattdessen andere, informellere Formen der Interessenvertretung an". Nur in solchen Unternehmen hätten gewählte Belegschaftssprecher eine ernsthafte Rolle, stellt Lücking fest. In den drei anderen Typen der Betriebe ohne Betriebsrat seien alternative Vertretungsformen hingegen ohne Bedeutung.
*Stefan Lücking: Zwischen Neopaternalismus und Repression, in: WSI- Mitteilungen 2/2009, Schwerpunktheft "Betriebsratsarbeit in Deutschland und den Niederlanden".
Die Untersuchung der Münchner Soziologen erscheint Ende 2009 auch als Buch: Artus, Ingrid / Böhm, Sabine / Lücking, Stefan / Trinczek, Rainer: Jenseits der Mitbestimmung. Interessenhandeln in Betrieben ohne Betriebsrat. Campus, Frankfurt/New York
Quelle: Düsseldorf [ WSI ]