Studie im Einzelhandel sowie in der Film- und Fernsehbranche: Wissenschaftler der TU Chemnitz und des Deutschen Jugendinstituts untersuchen die Vereinbarkeit von Berufsalltag und Familienleben
Eine Familie in den 1950er Jahren: Der Vater verdient den Lebensunterhalt, die Mutter zieht die Kinder groß - Familienleben und Erwerbsarbeit sind zwei recht streng getrennte Sphären. Seit Ende der 1960er Jahre weicht jedoch nicht nur die Rollenverteilung auf, sondern auch die Arbeitszeiten und -orte haben nahezu keine Grenzen mehr - allerdings mit jeweils ost- und westspezifischen Entwicklungsaspekten.
Studie im Einzelhandel sowie in der Film- und Fernsehbranche: Wissenschaftler der TU Chemnitz und des Deutschen Jugendinstituts untersuchen die Vereinbarkeit von Berufsalltag und Familienleben
Eine Familie in den 1950er Jahren: Der Vater verdient den Lebensunterhalt, die Mutter zieht die Kinder groß - Familienleben und Erwerbsarbeit sind zwei recht streng getrennte Sphären. Seit Ende der 1960er Jahre weicht jedoch nicht nur die Rollenverteilung auf, sondern auch die Arbeitszeiten und -orte haben nahezu keine Grenzen mehr - allerdings mit jeweils ost- und westspezifischen Entwicklungsaspekten.
Im Forschungsprojekt "Entgrenzte Arbeit - entgrenzte Familie" haben sich Forscher der Professur Industrie- und Techniksoziologie der TU Chemnitz von Prof. Dr. G. Günter Voß sowie des Deutschen Jugendinstituts München mit dem Umbruch in der Erwerbsarbeit und im Familienleben beschäftigt. Dazu haben sie von März 2006 bis Februar 2008 Interviews mit 76 Müttern und Vätern geführt, die in München oder Leipzig im Einzelhandel bzw. in der Fernseh- und Filmbranche arbeiten. Das Projekt wurde von der Hans-Böckler-Stiftung finanziell gefördert.
Arbeit und Familie ohne zeitliche oder räumliche Grenzen
Der Einzelhandel steht in der Studie stellvertretend für die hochflexible Arbeit - und häufig verbreitete Teilzeitarbeit - im Dienstleistungssektor. Die Ausdehnung der Ladenöffnungszeiten verschärft den Trend zu flexiblen Arbeitszeiten und Schichtsystemen im Einzelhandel bei gleichzeitigem Abbau von Arbeitsplätzen. Im Jahr 2006 arbeiteten 2.585.000 Beschäftigte im Einzelhandel, 6,4 Prozent weniger als 1995. Jeder zweite Arbeitsplatz ist inzwischen ein Minijob oder eine Teilzeitstelle - gekennzeichnet durch in Lage und Dauer sehr variable Arbeitszeiten. Bei den Führungs- und Vollzeitkräften steigt parallel dazu die regelmäßige Wochenarbeitszeit. Durch eine geringe Personaldecke ist die Planung oft sehr kurzfristig und führt zu einer Unvorhersehbarkeit der Arbeitszeiten. "Auch die Arbeit zu so genannten unsozialen Zeiten - abends nach 19 Uhr und an Samstagen - ist im Einzelhandel weit verbreitet und macht es schwierig, ein soziales Leben mit der Familie und Freunden zu pflegen", sagt Peggy Szymenderski, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur
Industrie- und Techniksoziologie der TU Chemnitz. Hinzu kommen - vor allem bei Führungskräften - hohe Anforderungen an die räumliche Flexibilität.
Seit sich neben den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern die kommerziellen etabliert haben, ist die Zahl der Beschäftigten in der Film- und Fernsehbranche gestiegen - jedoch nicht unter den Festangestellten und den für diese Branche traditionellen festen freien Mitarbeitern, sondern bei den freien Mitarbeitern und den auf Produktionsdauer befristet Angestellten. Im Jahr 2005 lag die Zahl der versicherungspflichtig Beschäftigten bei rund 96.500. Die Arbeitsbedingungen sind je nach Branchensegment unterschiedlich - die extremsten Anforderungen an die räumliche und zeitliche Flexibilität der Beschäftigten sowie die höchste Unsicherheit über Anschlussprojekte bestehen bei der Produktion von Kinofilmen und Fernsehspielfilmen. Die Arbeitszeiten liegen häufig - zumindest während einer laufenden Produktionsphase - nur sehr knapp oder auch gar nicht mehr im Rahmen des Arbeitszeitgesetzes. Gedreht wird dabei auch nachts, an Wochenenden und Feiertagen. Die in der Film- und Fernsehbranche typische projektbezogene Arbeit ist auch in der Wissenschaft, im Journalismus, in der IT-Branche, im Bereich Werbung und Design sowie in der Automobilbranche typisch.
Parallel zu den Veränderungen in der Erwerbswelt stellen die Wissenschaftler auch einen Wandel im Familienleben fest. "Die so genannte Normalfamilie der 1950er und 1960er Jahre gibt es nicht mehr, Menschen durchlaufen in ihrem Leben verschiedene Familienkonstellationen", berichtet Szymenderski und ergänzt: "Auch die Konturen von Weiblichkeits- und Männlichkeitsbildern weichen auf."
So kümmern sich heute die Männer immer häufiger um die Betreuung und Erziehung der Kinder, während Frauen öfters als früher berufstätig sind. Auch Männer üben ihre Berufe nicht mehr ein Leben lang aus und erfüllen seltener die Ernährerrolle. Aus der gleichzeitigen Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Familie ergibt sich eine komplexe Gemengelage, die von den Betroffenen große Anstrengungen und viel Einfallsreichtum fordert, um Familie und Arbeit unter einen Hut zu bekommen.
Familienleben in den Zeitlücken der Erwerbsarbeit
"Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Verhältnisse verkomplizieren. Erwerbstätige Eltern sind heute damit konfrontiert, mit Veränderungsprozessen in der Erwerbsarbeit und der Familie umzugehen", fasst Szymenderski zusammen und ergänzt: "Einige Aspekte der Entgrenzung von Familienleben und Erwerbsarbeit kommen den Familien zwar entgegen und sind positiv besetzt. Im Alltag überwiegen aber die Belastungen und neuen Herausforderungen." Die befragten Eltern sind durch ihr Bemühen, Familienleben und Berufstätigkeit zu vereinbaren, so erschöpft, dass sie die Sorgeleistungen für die Familien oft an der Grenze des Machbaren praktizieren. Weiterhin erfasste die Studie gemeinsam verbrachte Zeit als Grundbedingung für eine Familie - die jedoch immer seltener gesichert ist: "Flexiblere Arbeitszeiten und steigende Mobilität im Beruf führen dazu, dass Familie zunehmend in den Zeitlücken der Erwerbsarbeit sowie aus der Ferne gelebt werden muss", so Szymenderski. Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass Familienmitglieder verlässlich für eine gemeinsame Freizeitgestaltung zur Verfügung stehen - auch wenn diese wesentlich zur Lebensqualität einer Familie beiträgt und Voraussetzung für die kindliche Entwicklung und Bildungsprozesse ist. Familien sind dadurch gezwungen, die Gemeinsamkeit ihrer Mitglieder geplant und aktiv herzustellen. Familie wird so zu einer anspruchsvollen Herstellungsleistung und erfordert die Entwicklung kreativer Praktiken und deren stete Überprüfung und Anpassung an sich ändernde Rahmenbedingungen.
Deutlich wird auch, dass zwischen den zeitlichen und räumlichen Flexibilisierungen in der Erwerbsarbeit auf der einen und einem Großteil der sie umgebenden, nach wie vor weitgehend starren Institutionen wie Kindertagesstätten und Behörden auf der anderen Seite große Lücken klaffen. "Es zeigt sich ein hoher, äußerst differenzierter und komplexer Bedarf an flexibler Kinderbetreuung, den die berufstätigen Eltern aufgrund fehlender öffentlicher Betreuungsangebote vielfach nur durch kreatives Jonglieren und private Betreuungslösungen befriedigen können." Die Wissenschaftler haben aus ihren Interviews einige Bedarfspunkte in der Kinderbetreuung herauskristallisiert: So verlangen die Eltern in den untersuchten Branchen nach einer zeitlichen Ausdehnung des Betreuungsangebotes in den frühen Morgen- sowie in den Abendstunden, an Wochenenden und in Ferienzeiten, nach einer zeitlich flexiblen und auch kurzfristigen Nutzbarkeit von Betreuungsangeboten zu bezahlbaren Konditionen, nach Betreuungslösungen für räumlich mobil Erwerbstätige sowie nach kindgerechten flexiblen Betreuungskonzepten, die auch der Entwicklungsförderung der Kinder dienen. "Vor allem in Westdeutschland klaffen die beruflichen Anforderungen und die Angebote von öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen weit auseinander. Aber auch in den neuen Bundesländern, wo das Ganztagsangebot die Regel ist, fehlt es weitgehend an ausreichender Flexibilität im Betreuungsangebot", resümiert Szymenderski. Dabei würde sich ein besseres Angebot auch wirtschaftlich lohnen - denn ein gelingender Familienalltag wirkt sich positiv auf Motivation und Engagement im Beruf aus, so ein weiteres Ergebnis der Studie. Erfahren die Beschäftigten umgekehrt zu große Einschränkungen der Möglichkeit, den Familienalltag eigensinnig zu gestalten und auf die Bedürfnisse der Familienmitglieder abzustimmen, tragen sie diese Unzufriedenheit in die Arbeitswelt zurück.
Quelle: Chemnitz [ TU ]